2017/18 Wintersemester

Es sind noch viele Fragen offen. Kritische Perspektiven auf die Auseinandersetzung und Aufarbeitung des NSU Komplexes

Der NSU Prozess geht dem Ende entgegen, doch das Urteil wird nicht die versprochene Aufklärung mit sich bringen und nicht das aufarbeiten, was zentraler Bestandteil und Voraussetzung des NSU Terrors war: den strukturellen und gesellschaftlichen Rassismus in Deutschland. Mit dem Ende des Prozesses besteht die Gefahr, dass die deutsche Schlussstrichmentalität und -sehnsucht eine weitere Aufarbeitung verunmöglicht und die vielen offenen Fragen auch solche bleiben. Gegenwärtig steigt erneut die mediale Aufmerksamkeit, die sich jedoch wie in der bisherigen Berichterstattung auf die Täter*innen fokussiert. Hierbei werden die Opfer und deren Angehörige, ihre Erfahrungen und ihr Wissen marginalisiert. Darin lässt sich eine Fortführung der rassistischen Berichterstattung und der polizeilichen Ermittlungsarbeit erkennen, die auch vor der Selbstenttarnung des NSU die Opfer zu Täter*innen machte und somit eine unbehelligte Fortsetzung der Mordserie ermöglichte. In dem Tutorium wollen wir uns gemeinsam dem NSU Komplex aus unterschiedlichen Perspektiven nähern. Neben einer allgemeinen Auseinandersetzung mit dem NSU-Komplex soll insbesondere die Frage nach rassistischen Kontinuitäten gestellt und eine Analyse dieser in verschiedenen Bereichen vorgenommen werden. Zentral sind für uns die Fragen: Auf wen ist die Aufarbeitung fokussiert? Welche Stimmen werden gehört? Wie werden die Opfer zu Tätern gemacht? Welche rassistischen Kontinuitäten finden sich in Politik, Ermittlung und Berichterstattung?

Feministische Kapitalismuskritik

In klassischen ökonomischen Theorien werden vergeschlechtlichte, kapitalistische Macht- und Ausbeutungsverhältnisse häufig ausgeblendet. Die damit verknüpfte Beschränkung der Analyse auf die Sphäre des Öffentlichen und der Lohnarbeit vergisst, dass es sich bei der ins Private gedrängten (Re-)Produktionsarbeit, die überwiegend von Frauen geleistet wird, um ein Fundament kapitalistischer Wirtschaftsweise handelt. Die Dichotomie von Öffentlichkeit, Produktivität und Lohnarbeit auf der einen, sowie Privatheit, Unproduktivität und (Re-)Produktionsarbeit auf der anderen Seite sind und waren seit jeher Kritikpunkt feministischer Ökonomie und Theorie. Als ein Höhepunkt feministischer Kapitalismuskritik können die Debatten, z.B. die Hausarbeitsdebatte, ab den 1970er Jahren gesehen werden. Wir möchten uns im Autonomen Tutorium mit der Frage nach der Immanenz vergeschlechtlichter (Re-)Produktionsverhältnisse im Kapitalismus beschäftigen. Dabei konzentrieren wir uns auf die feministisch-marxistische Hausarbeitsdebatte. Durch die Beschäftigung mit diesen Konzepten können wertvolle Rückschlüsse für gegenwärtige Analysen und politische Praxis gezogen werden. Um möglichst verschiedenen Interessierten die Teilnahme zu ermöglichen, soll am Anfang in grundlegende Konzepte feministischer Kapitalismuskritik eingeführt werden. Darauf folgt der Schwerpunkt des Tutoriums mit Texten zur Hausarbeitsdebatte. Zum Schluss soll der Bogen zu zeitgenössischen kapitalismuskritischen Feministinnen gespannt werden.

Subjekt ohne Trieb? Zur Kulturismus-Debatte innerhalb der Psychoanalyse

Freud hat sich zeitlebens als Naturforscher betrachtet; nicht zufällig hält Freud über sein gesamtes Werk – wenn freilich auch mit zahlreichen Modifikationen – an seiner Trieblehre fest. In den 40‘er und 50‘er Jahren entzündet sich am Triebbegriff eine hitzige Kontroverse zwischen Neo-Freudianern (v.a. Erich Fromm und Karen Horney) – oder auch Revisionisten genannt – und den Kritischen Theoretikern (v.a. Marcuse, Adorno und Horkheimer), die innerhalb der psychoanalytischen Rezeption auch als Kulturismus-Debatte bezeichnet wird. Die Revisionisten betonen die soziale bzw. kulturelle Bedingtheit der Triebe und des Unbewussten und bezwecken eine Ersetzung des Begriffes der Libido durch z.B. „emotionelle Antriebe“, „Impulse“, „Bedürfnisse“ oder „Motivationen“. Die Kritischen Theoretiker verteidigen hingegen vehement die Trieblehre Freuds und sehen die Anwendung gesellschaftstheoretischer Erwägungen auf die Psychologie für umso problematischer „je unbedenklicher die Wechselwirkung von innerer und äußerer Welt auf die Oberfläche verlagert wird“ (Adorno). „Freuds Biologismus ist Gesellschaftstheorie in einer Tiefendimension, die von den neofreudanischen Schulen konsequent verflacht worden ist“ (Marcuse).

Die Kulturismus-Debatte ist meiner Ansicht nach eine gute Möglichkeit der Frage nach dem Verhältnis von Trieb, verinnerlichter Norm und gesellschaftlicher Produktionsweise intensiv nachzugehen – Fragen, die ggf. auch einen neuen Blick auf aktuelle Debatten ermöglichen. Im Tutorium sollen in erster Linie die Beiträge von Freud, Fromm, Marcuse, Adorno, Horkheimer, Otto Fenichel und Alfred Schmidt diskutiert werden.

Überwachung und Profiling: Technologie, politische Effekte, Kritik

In den vergangenen Jahren ließ sich zunehmend beobachten, wie durch den Verweis auf vermeintliche Sicherheitsbedrohungen bestehende Überwachungsmaßnahmen ausgeweitet und neue Maßnahmen eingeführt wurden. In Politik und Öffentlichkeit wird momentan beispielsweise diskutiert, wie sog. ‚gefährliche’ Individuen identifiziert oder wie Geflüchtete am effektivsten isoliert und kontrolliert werden können.

In diesem Tutorium wollen wir uns gemeinsam die Fragen stellen, welche Rolle Überwachung in der gegenwärtigen Gesellschaft spielt und wie sie sich aus der Perspektive einer kritischen Sozialwissenschaft verstehen lässt. Durch eine theoriegeleitete Analyse von gegenwärtigen Überwachungspraktiken (u.a. Überwachung durch Geheimdienste, Rasterfahndung, Data-Mining-Methoden und Racial Profiling) soll herausgearbeitet werden, wie Überwachungstechnologien funktionieren, welche politischen Effekte sie haben und warum sie problematisch sind. Ziel des Tutoriums ist es, uns für den alltäglichen Einsatz von Überwachungstechnologien sowie für dessen oft diskriminierende Effekte zu sensibilisieren. In diesem Sinn kann ein besseres Verständnis vorherrschender Kontrollmechanismen zu einer informierteren Kritik neuer Überwachungsforderungen beitragen.

Warum Anarcho-Syndikalismus geil ist

Stressiges Studium? Wenig Freiheit? Viel Arbeit, kaum Kohle? Darüber, dass wir nicht in der bestmöglichen Welt leben, sind sich die meisten einig. Doch was lässt sich dagegen oder stattdessen tun? Ein Ansatz zur Befreiung ist der Anarcho-Syndikalismus. Der Begriff bezeichnet den Zusammenschluss von Menschen basierend auf den Prinzipien von Selbstbestimmung, Selbstorganisation und Solidarität. Er stammt aus der Arbeiterbewegung des 19 Jahrhunderts. Was sind die Kernideen? Was haben Anarcho-Syndikalist_innen erreicht? Was sind Kritikpunkte daran? Und besonders: Was können wir davon heute noch gebrauchen? Wie lassen sich anarcho-syndikalistische Strategien an der Hochschule nutzen?

Was ist Dialektik?

„Dieser Satz ist falsch.“

Ergibt dieser Satz Sinn? Wäre er wirklich falsch, würde logischerweise das Gegenteil zutreffen. Der Satz wäre eigentlich wahr. Aber das widerspräche dem Inhalt des Satzes, da dieser ja falsch ist. Was ist jetzt also richtig?

Dieses berühmt-berüchtigte Lügner-Paradoxon hat die Geister bereits seit der Antike beschäftigt. Doch die meisten haben dies als Spielerei abgetan und dem klaren Denken die Widerspruchsfreiheit anempfohlen. Doch ist dies eine zufriedenstellende Lösung? Nur einige wenige Philosophen wagten es, sich denkerisch Paradoxien und Widersprüchen zu stellen. So v.a Hegel, der mit seiner Dialektik nicht nur eine neue Methode des Denkens, sondern ein ganzes philosophisches System entwarf. Das Lügner-Paradoxon gerät deshalb in einen Widerspruch, weil sich der Satz auf sich selber bezieht. Hegel betont, dass dies eben keine Spielerei ist, sondern dass Selbstbezüglichkeiten in der Wirklichkeit überall vorkommen. So ist das Ich, das Selbstbewusstsein, die paradoxe Grundkategorie des deutschen Idealismus.

Wir wollen im Tutorium gemeinsam Texte von Hegel, aber auch von Marx und Adorno lesen und der Frage nachgehen, was Dialektik überhaupt ist. Gemeinsam erörtern wir, ob die klassische Logik wirklich Grenzen in der Beschreibung der Wirklichkeit besitzt und es der Dialektik immer noch bedarf, oder ob sie nicht vielmehr gerade jetzt ein notwendiges Element zum Verständnis der Gegenwart, sowie der Fortführung einer kritisch-emanzipativen Theorie der Gesellschaft darstellt.

Zirkulation und Verbrechen – Zur Kritik des Proudhonismus

„Eigentum ist Diebstahl!“ – Dieses der bürgerlichen Gesellschaft entgegengeschleuderte Paradoxon machte Pierre-Joseph Proudhon mit einem Schlag weltbekannt und trug ihm den Ruf des Revolutionärs ein. Der Autor dieser auch heute noch zirkulierenden Parole war ein schillernder Mann – einerseits prägte er als „Vater der Anarchie“ (Kropotkin) Entwicklung des Anarchismus und Syndikalismus nachhaltig, andererseits brachten ihm sein rabiater Antisemitismus, seine manifeste Frauenverachtung und sein antikommunistischer Antikapitalismus den Vorwurf ein, ein Vordenker des Faschismus zu sein. Ziel dieses Tutoriums soll sein, dem „lebendigen Widerspruch“ (Marx) Proudhon auf die Schliche zu kommen, indem wir seine Kritik an Eigentum, Geld und Zins und seine damit eng verbundene Vorstellung eines Sozialismus, der den Kapitalismus abschaffen, aber die Marktwirtschaft beibehalten will, nachvollziehen. Dieses Konzept einer erst in ihr Recht zu setzenden Zirkulation gilt es sodann mit der Fundamentalkritik von Marx am „kleinbürgerlichen Sozialismus“ Proudhons zu konfrontieren. Dabei soll es weniger um einen bloßen Nachvollzug der Geschichte der Theoriekämpfe innerhalb des Sozialismus gehen, vielmehr gilt es gemeinsam zu versuchen, die Funktion der Zirkulation innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft zu fassen und über die Konsequenzen für die Frage nach der Überwindung der kapitalistischen Gesellschaften nachzudenken. Vorkenntnisse sind nicht erforderlich.