Tutorium 1: 30 Jahre Oslo-Friedensprozess – Eine kritische Bestandsaufnahme des Nah-Ost-Konfliktes und seiner deutschen Rezeption

Am 13. September 2023 jährt sich der Beginn des sog. Oslo-Friedensprozesses zum 30. Mal. Bis heute stellen die damals abgeschlossenen Verträge die Grundlage für die derzeitigen Verhältnisse zwischen Mittelmeer und Jordan dar. Wer sich mit dem Nah-Ost-Konflikt beschäftigen möchte, wird jedoch unmittelbar einem Mantra begegnen: „Oslo ist tot“. Ein toter Friedensprozess trifft nun auf die (rechts-)radikalste Regierung, die Israel je hatte. Auf palästinensischer Seite bilden sich neue Milizen, die sich nicht mehr an die alten Autoritäten gebunden fühlen. Ohne jede Sensationsgier lässt sich feststellen: Das Jahr 2023 verspricht nichts Gutes. Vor diesem Hintergrund bietet dieses Autonome Tutorium einen Raum für die Auseinandersetzung mit dem Nah-Ost-Konflikt und seiner jüngsten Geschichte. Dazu beginnen wir mit der Gegenwart und sprechen mit verschiedenen Akteuren vor Ort (per Videoschalte). Ausgehend von der konkreten Lebensrealität unserer Gesprächspartner:innen wird schrittweise die Frage bearbeitet, wie es dazu kam bzw. kommen konnte. Dabei soll weniger die Verengung auf eine „richtige“ Perspektive, sondern vielmehr die Vergegenwärtigung verschiedener existierender Narrative erarbeitet werden. In einem zweiten Teil des Tutoriums wenden wir uns dann der Frage zu, was die konkreten Verhältnisse vor Ort für uns in Deutschland bedeuten. Mit den Eindrücken aus dem ersten Tutoriums-Segment soll die Rolle des Nah-Ost-Konfliktes für antisemitische, aber eben auch orientalistische bzw. rassistische Diskurse in deutschen Debatten aufgearbeitet werden. Das Ziel des Seminars ist damit ausdrücklich nicht, über „Lösungen“ des Konfliktes zu palavern, sondern eine fachlich und normativ fundierte Kritik deutscher Ausgrenzungspraktiken, die sich inhaltlich am Konflikt bedienen, zu erarbeiten.

September 13, 2023 marks the 30th anniversary of the beginning of the so-called Oslo Peace Process. To this day, the following agreements are the basis for the current conditions between the Mediterranean and the Jordan River. However, anyone who is interested in the conflict will immediately encounter a mantra: „Oslo is dead“. This dead peace process is now confronted with the most radically right-wing government Israel has ever had. On the Palestinian side, new militias are forming that no longer feel bound to the old authorities. Against this background, this Autonomous Tutorial offers a space for dealing with the conflict and its recent history. We will begin in the present and talk to various people who are directly impacted by the current events (via Zoom). Starting from the concrete reality of the lives of our interlocutors, we will work step by step on the question of how it came (or could come) to this. Thereby, the aim is not so much to narrow down one „correct“ perspective, but rather to confront different existing narratives. In the second half of the semester, we will then turn to the question of how the conflict is perceived in Germany. Before the background of our video sessions, we will talk about the role of the Middle East conflict for anti-Semitic, but also Orientalist or racist discourses in German debates. Thus, the aim of the seminar is specifically not to blab about „solutions“ to the conflict, but to work out a theoretically and normatively sound critique of German exclusionary practices that rhetorically employ the conflict.

Especially the first half of the seminar will be primarily in English, due to our interview partners. When moving in the second half we can discuss which language we want to choose to continue.

With Tobias Sauer

 

Tutorium 2: Aufklärung und Utopie. Zur Entstehung sozialistischer Ideen im Frankreich des 18. Jahrhunderts

Im 18. Jahrhundert entstanden in Frankreich die ersten Reflexionen über die Aufklärung, die in Richtung eines utopischen Sozialismus wiesen. Anschließend an die Naturrechtstheorie und die Theorie menschlicher Gleichheit stellten sich u.a. Morelly und Collignon gegen die politisch-ökonomischen Zustände der Vorstufe der industriellen Revolution. Wo die Theorien der Aufklärung sich nur für die abstrakte Gleichheit der Individuen einsetzten, forderten sie darüber hinaus die Gütergemeinschaft und Gemeinarbeit.

Am Ende der Französischen Revolution amalgamierte Babeuf in der Verschwörung für die Gleichheit diese Einflüsse mit dem frühproletarischen Aufstand und dem jakobinischen Konzept einer revolutionären Diktatur zu der einzigen frühsozialistischen Bewegung, die Marx im kommunistischen Manifest positiv herausstellte. Im Gegensatz zu Marx, der den technologischen Fortschritt dort als Motor einer sozialistischen Veränderung der Gesellschaft bestimmte und zur deutschen Sozialdemokratie, die daran anschließend die Entwicklung der Produktivkräfte mehrheitlich so interpretierte, als würde sie quasi automatisch in den Sozialismus führen, herrscht in diesem Frühsozialismus noch eine Skepsis gegenüber technologischer Entwicklung. Dies bedeutet jedoch keine grundsätzliche Ablehnung.

Im Tutorium setzen wir uns mit den Implikationen der oft als Träumerei verkannten aufklärerisch-sozialistischen Theorien auseinander. Ihre kritische Phantasie und die Kritik der Technologie sollen dabei genauso beachtet werden wie ihre regressiven Elemente.

Mit Leon Szymanski

 

Tutorium 3: Politik von unten. Basisarbeit, Massenorganisation und Demokratie

Wir möchten uns mit politischen Ansätzen beschäftigen, die explizit basisorientiert sind. Der Schwerpunkt liegt auf Versuchen, (basis-)demokratische und massenfähige Alternativen zu „Top-down-Governance“ zu entwickeln, also die Theorie und Praxis von Organisationen und Institutionen untersuchen, die konsequent Möglichkeiten der direkten Einbindung von möglichst vielen Menschen bereitstellen oder sich sogar dadurch definieren. Dazu werfen wir u.A. einen Blick auf: Basisgewerkschaften, italienische Arbeitskämpfe der späten 60er Jahre, Organizing-Methoden, internationale Beispiele wie die Zapatistas in Mexiko und Evo Morales in Bolivien, aber auch lokale Gruppen aus Frankfurt.

Mit Benjamin Rauch

Tutorium 4: Der Geist von Mark Fisher: Kapitalismuskritische Zeitdiagnose, Kulturtheorie, Kommunismus, Depression.

„Es ist leichter sich das Ende der Welt, als das Ende des Kapitalismus vorzustellen“ – dieses Bonmot, welches Slavoj Zizek und Frederic Jameson zugeschrieben wird, wurde zum Angelpunkt des Werks von Mark Fisher. Fishers Arbeiten sind düster und innovativ zu gleich. Sie zeigen anhand von Popkultur, wie Drakes Musik oder den neueren Batman-Filmen, wie gesellschaftliche Ideologie funktioniert und welche Symptome der Gegenwart sich in ihnen ausdrücken; hauptsächlich Traurigkeit, Leere und die Widerkehr des Ewiggleichen. Gleichzeitig versucht er mit „Acid Communism“ den kapitalistischen Normalzustand denkerisch zu überwinden. Im Tutorium wollen wir uns gemeinsam dem innovativen und vielschichtigen Werk, dieses noch nicht ausreichend gewürdigten Autors widmen.

Mit Johannes Richter

 

Tutorium 5: Spuren kritischen Denkens in Frankfurt und Frankreich: Von der Dialektik zur Dekonstruktion

Was verbindet das in Frankfurt und in Frankreich geprägte kritische Denken und was trennt es voneinander? Die großen Linien, einerseits ausgehend von Hegel und Marx, andererseits von Nietzsche und Heidegger finden im 20. Jahrhundert nur selten – aber oft an entscheidenden Stellen – zueinander. Im Tutorium soll eine dieser Spuren aufgesucht werden. Jacques Derrida erhält im Jahr 2001 den Theodor-W.-Adorno-Preis und sagte in seiner Preisrede, dass Adorno „dem Rechnung getragen [hat], was am singulären Ereignis vom Begriff, von der Dialektik nicht begriffen werden kann; und er hat alles darangesetzt, der Verantwortung gerecht zu werden“. Dieses gemeinsame Programm soll aufgespürt werden und sich dabei den sozialontologischen Implikationen des Derridaschen Denkens der Dekonstruktion und der différance, sowie dem Adornoschen Denken der Negativen Dialektik und Nichtidentität angenähert werden. Dabei wird herausgearbeitet, wie sich die Soziologie in ein Denken hineinbegeben kann, das dem einzelnen Phänomen in seiner Widerständigkeit und seinem Entzug gerecht werden kann, ohne in einen Positivismus des Allgemeinen zu verfallen. Das Tutorium versucht Unterschiede und Gemeinsamkeiten beider Traditionslinien herauszuarbeiten und sie für eine kritische Analyse der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts fruchtbar zu machen. Hierzu soll im Zusammenhang mit den Ursprüngen beider Denker (Hegelsche Dialektik, Saussurscher Strukturalismus und Husserlsche Phänomenologie) sich im gemeinsamen Nachdenken, Lesen und Interpretieren der Inhalt erschlossen werden. Alle Interessierten sind willkommen!

Mit Tobias Bauer

 

Tutorium 6: Herbert Marcuses Sozialpsychologie

Die Eröffnung des ISF jährt sich zum 100. Mal. In der Vorbereitung zu den Feierlichkeiten wird klar, wie viele der mit dem Institut assoziierten Denker*innen aus dem akademischen Betrieb, dem Feuilleton oder politischen Aktivismus nicht mehr wegzudenken sind. Herbert Marcuse scheint nicht dazuzugehören. Sein Werk gilt den einen als zu politisch und engagiert, den anderen als zu theoretisch und schwer zugänglich. Dies wollen wir ändern. Das Tutorium wird sich mit seiner Sozialpsychologie befassen. Wir werden „Triebstruktur und Gesellschaft“ lesen, welches vielen als Hauptwerk gilt. In Vorbereitung darauf werden wir gemeinsam den Grundstein für ein Freudverständnis legen und im Anschluss vermischtes aus dem Kanon Marcuses lesen.

Mit Frederik Fingerhut und Julian van Endert

 

Tutorium 7: Sexarbeit ist Arbeit? – Feministische Sichtweisen auf Prostitution

“Sex work is work“ – so lautet der Slogan, der häufig von Aktivistinnen in und um Prostitution verwendet wird, um für bessere Arbeitsbedingungen, Entstigmatisierung und Entkriminalisierung für Sexarbeiter*innen zu kämpfen.  Doch ist Sexarbeit tatsächlich eine Arbeit wie jede andere und wenn ja, was genau bedeutet das? In der Debatte um Prostitution stehen sich häufig zwei Pole gegenüber, bei denen eine Seite davon ausgeht, dass Konsens und Freiwilligkeit in der Prostitution grundsätzlich nicht möglich sind, während die andere Seite Kritiker*innen vorwirft, Sexarbeiter*innen als passive Opfer zu stilisieren. In dem Tutorium soll betrachtet werden, unter welchen Bedingungen Prostitution stattfindet: Welche Machtverhältnisse durchziehen die Arbeit, was ist bekannt über Gewalterfahrungen und Kriminalisierung, in welchem Zusammenhang stehen Prostitution und Rassismus, wer profitiert davon – und wer nicht? Außerdem soll die Debatte über Prostitution und grundsätzliche feministische Fragen beleuchtet werden: Was bedeutet Selbstbestimmung im Kontext von Sexarbeit, welche Rolle spielt der Körper und dessen Kommodifizierung – und welche feministischen Positionen existieren zwischen dem Gegensatz, der Prostitution entweder als Entmündigung oder Empowerment begreift?

Mit Jana Borchers

 

Tutorium 8: „Putting Feminism back on it’s Feet“ – Silvia Federici und der marxistische Feminismus

In unserem autonomen Tutorium wollen wir ausgewählte Texte der Philosophin und Aktivistin Silvia Federici gemeinsam lesen und diskutieren. Dabei wollen wir in Federicis Denken einführen und dabei auch zentrale Thesen des marxistischen Feminismus erarbeiten. Federicis Theorieangebot liefert eine breit aufgestellte Analyse des Zusammenhangs von Geschlecht, Körperlichkeit, Lohnarbeit und reproduktiver Tätigkeit in einem kapitalistischen Verwertungszusammenhang. Die Art, wie sie feministische Theorie, Überlegungen zu Körperlichkeit und marxistische Analysen zusammenführt, gilt dabei als wegweisend für den marxistischen Feminismus. Theoriearbeit bei Federici stand dabei schon seit den „Lohn für Hausarbeit“-Kampagnen der 1970er Jahre in regem Austausch mit ihrem feministischen Engagement und politischer Praxis als Aktivistin.

Wir wollen im Tutorium kurze Texte Federicis gemeinsam erarbeiten und diskutieren, hierfür greifen wir auf folgende Bände zurück: „Jenseits unserer Haut. Körper als umkämpfter Ort im Kapitalismus“, „Revolution at Point Zero. Hausarbeit, Reproduktion und feministischer Kampf“ und „Das Lohnpatriarchat. Texte zu Marxismus & Gender“. Bei unserem ersten Treffen wollen wir gemeinsam den vorläufigen Plan des Tutoriums überarbeiten und gegebenenfalls durch weitere Vorschläge (gerne auch von anderen Theoretiker*innen) ergänzen. Wir wollen ausmachen, ob wir die Texte auf Deutsch oder Englisch lesen und uns über Interessen und Vorkenntnisse austauschen. Vorkenntnisse in marxistischer oder feministischer Theorie sind aber nicht nötig – alle Interessierten sind herzlich willkommen! Wir freuen uns auf euch!

Mit Luise Brunner und Jonas Bereiter