2017 Sommersemester
Opa war ein Nazi – und Oma auch.
„Opa war ein Nazi – und Oma auch“ – Diese Aussage trifft wohl auf die viele Menschen zu, deren Vorfahren zwischen 1933 und 1945 in Deutschland lebten. Doch obwohl sich das postnazistische Deutschland mittlerweile als „Erinnerungsweltmeister“ fühlt und auch nicht davor zurückschreckt den Nationalsozialismus zur Führung von Angriffskriegen zu instrumentalisieren, hat sich an der Situation der persönlichen Vergangenheitsbewältigung in den meisten Familien seit 1945 nicht viel geändert. So stellt sich das angebliche kollektive „Aufwachen“ zur „Stunde Null“ nach 1945 in der Realität oft eher als ein kollektives Kopf in den Sand stecken dar, wenn es um die persönliche Vergangenheit geht.
Selbst bei Personen mit einem aufgeklärten und antifaschistischen Selbstverständnis kommen handfeste Recherchen zur eigenen Familiengeschichte oft nicht über den Status eines „man müsste/sollte mal“ hinaus und fallen dem Gefühl zum Opfer, dafür leider grade keine Zeit zu haben. Überwindet dann doch mal jemand das Berührungstabu bezüglich der eignen familiären Geschichte im Nationalsozialismus, bleiben diese Personen mit ihren Ergebnissen und Erlebnissen oft isoliert. Über den familiären Kreis hinaus wird kaum darüber gesprochen, was die Recherchen und die dabei zutage geförderten Fakten eigentlich bedeuten.
Mit unserem autonomen Tutorium wollen wir diesen Prozessen entgegenwirken. Wir wollen uns gemeinsam über die Möglichkeiten von Recherchen zu den eigenen Vorfahren informieren und diese Recherchen dann auch anstellen. Den Prozess und seine Fallstricke wollen wir dabei gemeinsam reflektieren und dabei auch Einordnungen und Bewertungen von dem, was wir herausfinden diskutieren.
Dabei soll sowohl ein vertieftes Verständnis des Nationalsozialismus, seines institutionellen Aufbaus und seiner gesellschaftlichen Organisation erarbeitet werden als auch eine Auseinandersetzung mit persönlicher Vergangenheitsbewältigung nach 1945 angestoßen werden und die aktuelle Relevanz solcher Prozesse herausgestellt werden.
Dazu wollen wir uns alle zwei Wochen treffen. Um einen geeigneten Termin zu finden und Absprachen zu treffen, was wir im Semester machen wollen, treffen wir uns am 03.05.2017 um 14 Uhr im Fachschaftenraum (Café Aufhebung – PEG 1.G 207). Falls ihr da nicht könnt, aber Interesse habt, schreibt eine E-Mail an s0130492[ät]stud.uni-frankfurt.de.
Das Tutorium richtet sich an alle Menschen, die Interessiere am Thema haben. Weder müssen die eigenen Vorfahren zwischen 1933 und 1945 in Deutschland gelebt haben, noch Nazis sein, noch ist es verpflichtend Recherchen anzustellen.
Zwischen Jutebeutel und Heimatliebe – die Identitäre Bewegung als Beispiel für eine hippe neue Rechte.
Neue rechte Bewegungen gewinnen mehr und mehr an Auftrieb – auch in Frankfurt. Es ist nach wie vor – und gerade jetzt – wichtig, sich damit auseinanderzusetzen. Wir möchten das in diesem Autonomen Tutorium gemeinsam mit euch machen. Dabei wollen wir ein besonderes Augenmerk auf die Identitäre Bewegung legen, die sich als junge, hippe und intellektuelle Jugendbewegung gibt und sich auch immer wieder selbst als „Ibster“ bezeichnet. Neben Hintergründen und Inhalten, wollen wir uns mit den Aktionsformen der Identitären Bewegung beschäftigen, die sich zum Ziel gesetzt hat, gezielt „den Linken das weg(zu)nehmen, was ihnen nie gehört hat“ (Martin Sellner). Dabei spielen auch neue Medien eine wichtige Rolle, weshalb wir uns viel mit Videos und Blogs beschäftigen wollen.
Zudem wollen wir eine feministische Perspektive einnehmen und uns anschauen, welches Frauenbild durch neue rechte Bewegungen und besonders die IB vermarktet wird. Solche Konzepte sind auch für das völkische, ethnopluralistische Weltbild der IB von zentraler Bedeutung.
Dieses Tutorium beschäftigt sich zwar mit der Identitären Bewegung, trotzdem wird es hin und wieder auch Bezüge zu anderen Gruppierungen geben.
Wir freuen uns auf alle, die sich gemeinsam mit neuen rechten Bewegungen auseinander setzen wollen. Es soll natürlich auch Raum für eure Vorstellungen und Ideen geben. Allerdings haben wir keine Lust auf Leute mit jeglichen diskriminierenden Einstellungen.
Wo der Pfeffer wächst – koloniales Erbe in der Gegenwart und theoretische Ansatzpunkte.
Wer trinkt keinen Kaffee oder Tee? Wer trägt keine Baumwolle? Wer wurde – im übertragenen Sinne – nicht schon mal dahin geschickt, wo der Pfeffer wächst? Die Kolonialgeschichte hat deutliche Spuren hinterlassen und wirkt sich bis heute auf unser Leben aus, nicht nur in den sogenannten Peripherien, sondern auch in den Zentren. Post- und Dekoloniale Theorien versuchen uns Ansätze zu geben, mit dieser Geschichte umzugehen. Die Grundlagentexte dieser Theorien und die Verhältnisse der verschiedenen Theorieströme zueinander sollen in dem Tutorium zur Diskussionsgrundlage gemacht werden. Dazu sind alle eingeladen, die sich bisher noch wenig oder gar nicht mit Post- und/oder Dekolonialen Theorien auseinandergesetzt haben, aber auch alle, die sich darüber schon die Köpfe zerbrochen haben sind willkommen, denn zusammen wissen wir bestimmt mehr.
Männerphantasien und Massenpsychologie.
Klaus Theweleits Studie „Männerphantasien“ verbindet NS-Täterforschung und die Analyse der männlichen Subjektkonstitution im Anschluss an Psychoanalyse und Kritische Theorie. Nach anfänglicher großer Aufmerksamkeit in Folge der Veröffentlichung 1977 spielt die Arbeit in den Sozialwissenschaften heute kaum noch eine Rolle. Vor allem in der kritischen Männlichkeitsforschung sowie in psychoanalytisch orientierten ideologiekritischen Ansätzen ist Theweleits Arbeit jedoch ein wichtiger Bezugspunkt um die Entstehung männlicher Gewalt nicht nur im Faschismus zu erklären. Dieses Potential zu nutzen stellt ein wichtiges feministisches Anliegen dar, wird jedoch durch die abschreckende Länge von über 1000 Seiten und der teils assoziativen, sehr komplexen Argumentationsweise erschwert.
Im Tutorium soll versucht werden anhand der massenpsychologischen Quellen Theweleits (z.B. Freud, Reich, Kracauer) und aktueller Sekundärliteratur zum Werk hinzuführen. Im weiteren Verlauf kann der Fokus auf schillernde Begriffe wie „rote Flut“ oder „weißer Terror“ oder auf Themen wie Geschlechterverhältnis oder Homosexualität gerichtet werden. Vorkenntnisse sind nicht nötig.
körper.wissen.- Eine experimentelle Annäherung an die Körpersoziologie.
Der Körper ist die elementare Bedingung sozialen Handelns. Als Forschungssubjekt bleibt der Körper jedoch zumeist unsichtbar. Angelehnt an die Unterscheidung von Körper und Leib soll in diesem Tutorium eine Brücke zwischen einer theoretisch-soziologischen Annäherung an den Körper und einer leiblich-affektiven Erfahrung desselben geschlagen werden. So sollen die Sitzungen zum einen aus der Diskussion körpersoziologischer Texte, zum anderen aus praktischen Übungen bestehen, die die Wahrnehmung des eigenen Körpers stärken – als Forschungssubjekt, im Verhältnis zu anderen Körpern, zum Raum.
Dabei sind drei thematische Schwerpunkte geplant: Unter der Überschrift „Körper als Werkzeug“ soll eine methodologisch-theoretische Annnäherung an das Feld der Körpersoziologie erfolgen. Hier soll unter anderem das Verhältnis der Konzepte von Körper und Leib behandelt werden. In dem Block „Körper in Interaktion“ wollen wir uns dem Zusammenspiel von Körper und Raum sowie verschiedener Körper miteinander widmen. Ein mögliches Thema stellt hier zum Beispiel „Berührung“ dar, die als Akt der ritualisierten nonverbalen Kommunikation im Alltag entweder „unsichtbar“ (Händedruck) oder sexualisiert wird. Der Block „Körper als Raum“ soll schließlich die Möglichkeit bieten, sich dem Körper als Ort der Konstruktion von Biologie und sozialen Sinnstrukturen zu widmen. Der Körper als physischer Raum bietet dabei eine Auseinandersetzung mit „Krankheit“ und „Ableness“ an, während er gleichzeitig auch als sozialer Raum eine praktische Erfahrbarkeit von Gender-Performance sowie Potentiale von Widerstand durch Körperlichkeit zu beleuchten vermag. Eure Anregungen zu Themen- und Textauswahl sind willkommen.
Feministischer Lektürekurs zu einer historisch-materialistischen Staats- und Rassismustheorie.
Gayatri Chakravorty Spivak: Can the Subaltern Speak?
Antonio Gramsci: Die Frage des Südens.
Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Luis Bonaparte.
Viel zitiert, selten gelesen: das trifft auf alle drei Aufsätze zu. Gemein ist ihnen, aus der besonderen Analyse räumlich und zeitlich begrenzter Phänomene allgemeine, aber situierte Wahrheiten abzuleiten.
Wir sind auf der Suche nach einer Theorie, die einen Begriff von Rassismus entwickelt, der unser Unbehagen über das tägliche, im Namen der „Rasse“ begangenen Leid artikuliert. Neoliberale Governmentalität trennt strukturell die von Rassismus Betroffenen von den Linien der Solidarität. Wer letztere nicht aufgeben möchte, ist ohnmächtig zwischen dem objektiven rassifizierten Leid und der Unmöglichkeit, sich dagegen aufzulehnen. Es ist naheliegend, dass die heutige Ökonomie in ihren Krisendynamiken wieder vermehrt auf die Trennung in weiße arbeitende und schwarze überflüssige Subjekte angewiesen ist – und damit den willkürlichen Tod der Überflüssigen hervorruft.
Spekulativ vermuten wir in der Verbindung der drei Texte eine theoretisch befriedigende Synthese von politischer Ökonomie, einem analytischen Blick auf Rassismus und vergeschlechtlichten Machtverhältnisse.
Wir richten uns bei diesem Tutorium nicht an auf Postkolonialismus spezialisierte, Marxismus-Dogmatiker oder ausgebildete Operaistinnen, sondern möchten gegenseitig voneinander lernen und gemeinsam diskutieren.
Fat Studies & Fat Empowerment
Die Fat Studies sind ein wenig institutionalisiertes Forschungsfeld. Dabei handelt es sich bei der von ihnen behandelten Persönlichkeitsdimension Körperumfang um eine zentrale Diskriminierungskategorie in vielen Gesellschaften.
Die Diskriminierung dicker Menschen drückt sich u.a. in ihrer stereotypisierenden und pathologisierenden Behandlung aus. Frauen* sind besonders davon betroffen. So beleuchtet z.B. Susie Orbach in ihrem Klassiker „Fat is a feminist issue“, wie sich hegemoniale Männlichkeit bzw. unterdrückte weiblich sozialisierte Identitäten im steten Streben um die Verbesserung bzw. Verkleinerung des weiblichen Körpers ausdrückt.
In diesem Tutorium setzen wir uns damit auseinander, was eigentlich die „Fat Studies“ und Fettendiskriminierung sind. Es soll der Raum geboten werden, sich kritisch mit den Herrschaftsverhältnissen auseinanderzusetzen, die sich am und im dicken Körper ausdrücken. Dazu sollen Begriffe wie Embodiment gemeinsam diskutiert werden, um sich der Frage anzunähern, wo die Schnittstellen von Körper und Kultur im dicken Körper liegen. Thema soll auch die internalisierte Disziplinierung / Diätideologie und eine Verknüpfung mit der Praxis des Fat Empowerment und der Solidarisierung mit diskriminierten Dicken sein.
Das Tutorium richtet sich an alle Interessierten, die sich kritisch und aus feministischer sowie intersektionaler Perspektive mit der Diskriminierung von dicken Menschen beschäftigen wollen. Es heißt dicke Menschen ganz besonders willkommen.
Bei Fragen oder Vorschlägen meldet euch gerne! English speaking students are welcome!
Ehrenamt im Wandel – Dienstbarkeit für wen? Dilemmata aus der Neuordnung des Sozialen
Es ist wohl unbestritten und wird aktuell gebetsmühlenartig postuliert: Ehrenamtliche bzw. freiwillig übernommene Tätigkeiten haben eine hohe Relevanz für diese Gesellschaft. Zunehmend und gerade in den letzten Jahren wird – angesichts der Herausforderungen durch die ungewohnt hohe Anzahl nach Deutschland Geflüchteter – die große Bedeutung immer mehr betont. Im wissenschaftlichen Diskurs ist das Thema etwa seit der Jahrtausendwende intensiver behandelt worden. Von Ausnahmen abgesehen, fällt eine eklatante Theorielosigkeit auf. Meistens handelt es sich entweder um quantitative Untersuchungen oder Formate, welche sich als Management- Literatur subsumieren ließen. Größere Untersuchungen sind dabei fast ausnahmslos auf Beauftragungen der Bundesregierung oder Entscheidungen des Bundestages zurückzuführen. Es mag insofern nicht weiter verwundern, dass eine letztlich durchweg affirmative Perspektive gegenüber dem Gegenstand eingenommen wird: Es geht etwa darum Engagement-Anreize zu schaffen oder Steuerungsprobleme zwischen Haupt- und Ehrenamtlichen zu regulieren.
In dem Tutorium wird eingangs ein Einblick über den Forschungsstand gegeben. Gemeinsam werden wir uns dann die wenigen bestehenden kritischen Perspektiven aneignen. Evt. durch kleinere Feldforschungsprojekte, vor allem aber durch die Reflexion der eigenen freiwilligen Tätigkeiten, sollen relevante Aspekte zur Beleuchtung des Phänomens herausgearbeitet werden. Daraufhin soll gemeinsam darüber entschieden werden, welche kritischen Theorie-Ansätze (aus dem Portfolio (post)marxistischer, feministischer und (post)strukturalistischer Theorien) als interessant und vielversprechend zur Bearbeitung des Themas erachtet werden, um sich diesen problemorientiert annehmen zu können. Theorie wie (eigene) Praxis sollen nicht zu kurz kommen.